Artificial Pleasure – „The Bitter End“
Eigentlich will ich mich mit der Vorgeschichte zu Artificial Pleasure gar nicht lange aufhalten. Ein Debütalbum, das kann und soll schließlich auch als „blank slate“ fungieren, als unbeschriebenes Blatt, als Nullpunkt, von dem aus es für den Hörer ohne jedes Vorwissen und jede Voreingenommenheit los geht.
Es ist ja auch nicht so, dass diese Vorgeschichte typisch oder exemplarisch ist. Sie ist ein Extrembeispiel dafür, wie nah im Musik- und Medienbiz Hype und Stagnation auseinander liegen können.
Trotzdem, hilft ja nix, ich kann mich ja doch nicht bremsen. Also: Zeitreise. Zurück ins Jahr 2012. Da bejubelt im Guardian ein großer Artikel die taufrische Band Night Engine, die in London bereits alle Szenekenner orgasmisch zucken lässt. Dabei existiert das Quartett erst seit wenigen Monaten. Die Newcomer erstaunen mit einer Kombi aus zickzackigen Synthriffs und britischem Funk. Ein 80s-Revival der unerwarteten Art, das Robert Palmer und INXS eine lange nicht mehr wahrgenommene Coolness zurück gibt. Night Engine fangen die New Wave-Rhythmik der Talking Heads ein und ihr Sänger hat eine Stimme, die nicht wenige an Bowie himself erinnert. Dieser Phil MacDonnell ist ein faszinierender, intensiver Typ, der nicht nur mit seinem knallroten Haar Aufmerksamkeit magnetisch auf sich zieht. Wow! Alle sind sich einig: Hier kommt das nächste große Ding!
Kommt es nicht. Dieser Artikel aus ihren Anfangstagen wird für lange Zeit der Höhepunkt von Night Engines Karriere bleiben. Eine erste EP (2013) stößt auf wenig Echo, die Single „Wound Up Tight“ (2015) auf noch weniger.
Ich habe die Band schon fast vergessen, da entdecke ich im 2016er-Programm vom Great Escape-Festival in Brighton ein Bandfoto mit einem Typen, dessen Rotschopf und durchdringenden Blick man sofort wiedererkennt. Aha! Phil McDonnell singt jetzt bei Artificial Pleasure! Der Stil der neuen Band ist der gleiche: Kantig, abrupt, kühl, funky. Das Material von Night Engine ist in den Downloadstores und Streamingservices derweil verschwunden. Artificial Pleasures erstes Münchner Konzert im Herbst 2017 verrät, warum: Mehrere Songs stammen aus Night Engine-Tagen. Dies ist keine neue Band, sondern eine Umbenennung.
Und nun haben wir endlich „The Bitter End“ vor uns. Ohne das Vorwissen könnte man denken: Oha, das Debütalbum einer freshen neuen Londoner Band! Tatsächlich aber haben Artificial Pleasure schon sechs (!) geschlagene Jahre dafür gekämpft, diese Platte endlich veröffentlichen zu können. Manche Lieder sind uralt. Der Song „Young And Carefree“ erschein bereits auf der 2013er „Night Engine“-EP. „I’ll Make It Worth Your While“ wurde bereits im 2012er-Guardian-Artikel erwähnt.
Ich weiss ja nicht, was da im Hintergrund alles abgelaufen ist. Vielleicht hat Vertrags- und Management-Nerv die Band so lange gebremst. Vielleicht war die Umbenennung rein strategischer Natur, weil nun mal niemand in der Schublade namens „Na, die kommen aber auch nicht vorwärts, was?“ landen will. Vielleicht hätte ich das alles verschweigen sollen? Denn ihr hättet die Platte mit anderen Ohren gehört, wenn man euch gesagt hätte: „Artificial Pleasure, die brandheißen Londoner Aufsteiger!“
Naja, nun ist es so wie’s ist.
Egal, die Musik klingt ja deshalb nicht anders. Also jetzt endlich zur Platte! Die macht zwei Dinge klar: Erstens, warum diese Songs so früh für so große Aufregung sorgten. Zweitens, warum es trotzdem noch nicht so richtig klappen wollte.
Zuerst das Tolle an Artificial Pleasure: Fucken Hell, diese Jungs sind schnittig und kantig! Genauer: Sie sind schnittkantig! Sie klingen wie Klingen, so, dass man sich fast verletzt! Die Gitarrenlicks, sie zucken und zicken und zacken! Die Keyboards, sie blitzen im Stakkato wie per Stroboskop gespielt und schmirgeln durch die Gehörgänge wie Industrieschleifer! Die Beats treiben dich durch die Nacht wie ein irrer Stalker! Für die funky Bassläufe muss man ein neues Genre namens „Aggro-Disco“ erfinden! Dazu die Stimme von MacDonnell – so schneidend, dass er sich damit durch Glastische fräsen kann wie durch Butter!
Das alles ist top-beeindruckend. „I Need Something More“ ist die Zukunft, die uns Gary Numan mit „Cars“ versprochen hatte! „People Get Everywhere“ mutiert in sechs Minuten gleich mehrfach und updatet im Hauptteil den vergessenen 80s Funkwave von The Fixxs „One Thing Leads To Another“. „Wound Up Tight“ zerhackt INXSs „What You Need“ mit den Rotorbättern eines Militärchoppers.
Das sind alles echte Handkantenschläge. Warum flippen dann nicht alle UK-Medien aus? Warum laufen diese Killer-Tanznummern nicht längst in allen Indie-Discos?
Weil Artificial Pleasure eins fehlt: tunes.
Auf deutsch: Melodien. Mitsingmomente. Diese Band besteht komplett aus Ecken, Kanten und Zacken. Das ergibt ein beeindruckend stimmiges Klangbild, ja. Aber es lässt einem wenig, das man greifen und festhalten kann. In ihrem Bestreben, den Hörer permanent am Kragen zu packen und durchzuschütteln, übersehen die Londoner, dass es für den Schüttlee auf Dauer keinen Spaß macht. Dass es nur dann richtig wirkt, wenn man zwischendurch oft genug locker lässt.
Am besten sind AP deswegen, wenn sie sich auch mal Melodie und Atmosphäre zutrauen. So trifft „Basement“ den Sweet Spot zwischen Melodie und Unbehagen wie OMD zur „Dazzle Ships“-Ära. Der Track könnte das Intro für eine atmosphärische Supernummer sein – endet dann aber schon als nach 1:25 Minuten als unvollendetes Instrumental. Es muss dem stumpfen „Bolt From The Blue“ weichen, das marschiert wie ein genervter Militärtrupp durch eine Schweißerei: Überall gleißendes Licht, sprühende Funken und Missmut.
Auch das absolute Meisterstück dieser Platte erlaubt sich Melodie. „Turn To Dust“ beginnt als fast kitschige Prog-Synthklavier-Nummer. Dann entfaltet sich der Track zu genau dem Song, den die Editors immer schon schreiben wollten, aber bisher nicht hingekriegt haben.
Zeit fürs Fazit. Also, „The Bitter End“ ist auf jeden Fall eine Platte, die Eindruck macht. In ihrer kühlen Kantigkeit ist sie klanglich und atmosphärisch stimmig. Manchmal wird diese Eckigkeit zu unbequem, aber gut, nachdem Artificial Pleasure geschlagene sechs Jahre drauf warten mussten, sich endlich per Album zu präsentieren, ist ihre Neigung zum Es-unbedingt-zeigen-Wollen wohl nachvollziehbar. Ich wünsche AP und uns, dass wir aufs nächste Album nicht weitere sechs Jahre warten müssen und dass sie mit dieser Platte auch ihr Archiv ausgefegt haben. Spannend wird nun nämlich sein, was von dieser Band in Zukunft nachkommt. Was ihr nächster Schritt sein wird, jetzt, da diese enorm schwere erste Geburt endlich hinter ihnen liegt.