Review: Captain

Captain – „For Irini“

Elf Jahre, vier Monate und ein Tag. Captain haben mitgezählt. So viel Zeit ist vergangen zwischen ihrem Debüt „This Is Hazelville“ und dem zweiten (offiziellen – dazu später mehr) Album „For Irini“. Natürlich ist in der Zwischenzeit eine Menge passiert. Hoffnung, Enttäuschungen, Trennungen, Neuanfänge, Geburten und leider auch ein Tod.

Aber erst mal die Rückblende. Wir schreiben die Saison 2005/2006. Die großen Indie-Namen heißen Bloc Party, Franz Ferdinand und Arctic Monkeys. Aber auch das 80-Revival läuft auch Hochtouren. Mehr und mehr Bands berufen sich auf den Synth New Wave der Jahre 80-84. Ein paar französische Gruppen wie Phoenix, Rhesus oder Tahiti 80 haben derweil stylischen Softpop wieder salonfähig gemacht. Der richtige Moment, um eine Band unter Vertrag zu nehmen, die das Early-Eighties-Revival wenige Jahre weiter dreht und sich an mid-80s-Schlauberger-Bands wie Prefab Sprout, The Blue Nile oder The Lotus Eaters orientiert, oder? Prompt sägen The Feeling durch die britischen Charts und landen mit ihrem Album „Twelve Steps and Home“ einen UK-Millionenseller.

Hallo, Captain!
Captain sind zu diesem Zeitpunkt fünf geschmackvolle junge Londoner Popfans, die mit ihrer Single „Frontline“ einen Achtungserfolg auf einem Indielabel gelandet haben. Die EMI riecht die Chance und greift zu. Man gibt dem Quintett um den schlaksigen Sänger Rik Flynn einen Vertrag und verpflichtet 80s-Symbolfigur Trevor Horn als Produzenten. 

Coole Wahl. Horn hat in den 80ern Welterfolge noch und nöcher gefeiert, als Mitglied von Buggles („Video Killed The Radio Star“), als Producer der Pet Shop Boys, Frankie Goes To Hollywood und von ABCs „The Lexicon Of Love“. 2003 haben ihn Belle & Sebastian unerwartet aus der gefühlten Versenkung geholt. Tatsächlich war Horn weiter aktiv, aber für eher uncoole Leute wie Seal oder Tom Jones. Seine Arbeit als Produzent von „Dear Catastrophe Waitress“ gibt ihm Indie-Credibility zurück.

In der Tat, die Ergebnisse seiner Zusammenarbeit mit Captain sind umwerfend. Die schnittige Single „Broke“ wird mein persönliches Lieblingslied von 2006. Der Ohrwurm „Glorious“ liegt nicht weit dahinter. Das Album „This Is Hazelville“ erscheint und erfüllt alle Hoffnungen, die man als Fan haben kann. Es hat nicht nur prima Lieder, die Platte hat einen Spannungsbogen. Sie kommt mit „Hazelville“ vorsichtig, aber glänzend in die Gänge, die Singles strahlen auf, der Bogen wandert über melodiöse Highlights wie das herrliche „Build A Life“ in den Sommerregen-Sonnenuntergang. („Summer Rain“ / „Accidie“). Eine runde Sache aus kleinen Einzelkunstwerken, Noch Jahre später freue ich mich jedes Mal, wenn mein itunes-Shuffle ein Lied pickt. Künstlerisch ein Riesenerfolg für die Debütanten, finde ich.

Leider kein kommerzieller. Vielleicht ist die Platte zu subtil? Für Indies zu poppig, für Popper zu indie? Jedenfalls wird das Album von der breiten Masse und auch von der Kritik einfach übersehen. „This Is Hazelville“ erreicht in England gerade mal Platz 24. Keine desaströs schlechte Platzierung eigentlich, aber auch nicht das, was sich eine Major Company vorstellt.

Immerhin, dass die Band eine kleine, dafür hingebungsvolle Fanbase erreicht hat, ist dem Label nicht verborgen geblieben. Potential ist da, deswegen dürfen Captain ein zweites Album aufnehmen. Aber ausgerechnet als „Distractions“ im Kasten ist, wird die EMI „umstrukturiert“. Viele kleine und mittelgroße Bands verlieren ihre Verträge. Für Captain hängt’s jetzt an der Comeback-Single „Keep An Open Mind“. Leider nur Platz 53 in den UK-Charts. Der Vertrag wird aufgelöst, „Distractions“ bleibt für immer in den Archiven. Da schlummern die Bänder heute noch.

Tja. Und das war’s wohl mit Captain. Eine von vielen hoffnungsvollen Karrieren, die im Haifischbecken der Musikindustrie ihr Potential leider nicht entfalten konnte. Hier könnte die Geschichte traurig enden. Doch es wird noch trauriger.

Wir spulen vor. Captain haben sich nie aus den Augen verloren. Die Liebe zum Pop bleibt groß und „This Is Hazelville“ hat ein Eigenleben entwickelt. Die frühen Anhänger vergessen die Band nicht, manchmal entdecken neue Fans den kleinen Edelstein. 2012 geben Captain ihre Wiedervereinigung bekannt. Nicht mit breit gestreuter Presseerklärung, sondern per facebook an die kleine Fangemeinde. Karriere-Illusionen machen Captain sich keine mehr. Die Mitglieder haben heute Jobs, Kinder, Verpflichtungen. Aber die Liebe zur Popmusik, die ist noch da. Also probt man wieder unregelmäßig, schreibt wieder Songs, macht Planungen für eine Comebackshow. Nichts Großes aber.

Und dann kommt halt dieses Scheiss-Schicksal ins Spiel. Ab 2015 müssen die Proben ohne Gitarrist Mario Athanasiou stattfinden. Er liegt im Krankenhaus, Krebs. Mario stirbt Im Frühjahr 2016.

Wenn der Krebs zuschlägt, kann das nichts Gutes haben. Aber ein winzigster, kleiner Trost ist vielleicht, dass dieses Ereignis Rik Flynn, Claire Szembek (Keys, Gesang), Alex Yeoman (Bass) und Reuben Humphries (Drums) offenbar eine gewisse Zielstrebigkeit gab. Das neue Album, an dem man unverbindlich und ohne konkrete Release-Pläne über Monate, Jahre rumstöpselte – jetzt nimmt man sich vor, es endlich fertig zu stellen. Für Mario. Auf dass seine letzten Gitarrenaufnahmen nicht ungehört bleiben.

Also haben Captain vor ein paar Monaten eine pledgemusic-Kampagne gestartet. Tja, und seit Freitag ist es da, das Album. Zumindest schon mal für diejenigen, die „gepledget“ haben.

So. Und jetzt zu der Platte.

Wenn man eine Band sehr gerne mag, die verschwindet dann für elf Jahre von der Bildfläche und kommt dann mit so einer Geschichte zurück – dann weiss man ja gar nicht, was man erhoffen darf. Wo soll man den Maßstab ansetzen? Ich wäre auch dann sehr happy über Captains Comeback gewesen, wenn sie uns hier mit einer mittelmäßigen Liedersammlung hätten erkennen lassen, dass sie jetzt halt im middle age angekommen sind. Hauptsache, es biltzt hier und da die Erinnerung an „This Is Hazelville“ auf. Es hätte mir gereicht.

Aber: „For Irini“ ist toll! Es ist eine Platte, die gegen das Debüt von vor elf Jahren nullnicht abstinkt. Im Gegenteil: Das Album ist eine Aneinanderreihung von brillanten Ohrwürmern, die genau den sweet spot zwischen intelligentem Pop und knackigem Indie treffen, für den ich so anfällig bin. Da sind Welthits auf der Platte! Hits, die nie je eine Hitparade erreichen werden, okay. Aber die in einem Paralleluniversum wochenlang die #1 blockieren.

Nur ein paar Beispiele: „Uriel“ wäre ein Highlight auf New Orders „Republic“ gewesen. Die Bassline des Songs ist im wahrsten Sonne des Wortes die Hookline – also genau die Art Melodie, wie Peter Hook sie spielte. Klar, die Hook’che Bassline ist was, das man als clevere Popband im Repertoire haben muss, Trotzdem schön, wie gezielt und gekonnt Captain dieses Stilmitte einsetzen.

Auch das treibende „Out Of Range“ hat einen solchen Moment, wo der Bass die Melodieführung übernimmt. Wie Captain parallel und im Kontrast dazu die Keyboard-Line zu einem One-Note-Rhythmus-Instrument umfunktionierten, das ist schon superschlau und hat eine tolle Wirkung.

Wo soll ich bei „Red Light Coming“ anfangen? Da ist einfach alles perfekt. Der Afropop-mäßige Chor in der Strophe? All die Melodien? Ich glaube, es ist vor allem dieses ideale, superempfindliche Arrangement, das mich umhaut. Wie genau temperiert Captain hier die jeweiligen Tonspuren schichten, ein- und aussetzen, um eine fein geschliffene Dynamik zu entwickeln! (Okay, ich weiss, viele Leute werden sich das anhören, darin nur gefälligen Pop empfinden und sagen „Von was schwafelt der Henning da wieder?“ Auch legitim. Aber hey, ich kann mich da reinsteigern.)

Oder die Ballade „If You Really Want“. Auch so ein kleines Melodiewunder. Wenn dann bei Minute 3:17 auf einmal Marios Gitarre ins Bild sägt und der Flüsterpop-Song zur Indierocknummer umschlägt, wird’s triumphal. Klar, den leise-Laut-Kontrast kennt man schon von genug anderen Songs der Indiegeschichte. Aber ich hab’s an diesem Punkt echt nicht erwartet. Captain überraschen uns mit etwas, mit dem man eigentlich gar nicht mehr überraschen kann. Das muss doch Kunst sein, oder?

Eine Coverversion ist auf der Platte, „The First Picture Of You“, im Original von den Lotus Eaters. Eine 80er-Band, der die Kritik heute noch huldigt – und quasi ihr bekanntester Song. Auf anderen Popalben würde „The First Picture Of You“ alles überstrahlen. Auf „For Irini“ hält die Nummer gerade mal den Level der sie umgebenden Songs. Wenn das kein Beweis für Stärke ist, weiss ich auch nicht.

Tja. Ihr merkt schon: Ich bin begeistert. Ich liebe die Band! Eine Voreingenommenheit mag da sein, okay. Aber die Songs, sie sind sogar besser, als ich zu hoffen wagte. Die machen mich zum sentimentalen Häuflein – aber ich bin happy, dass Musik sowas aus mir machen kann.

Zur Erinnerung noch mal, das alles kommt von einer Band, die keinerlei Gedanken an eine Karriere mehr verschwendet. Die ihre eigene Kohle reinsteckt, um sowas zu machen. Das ist echte Liebe zum Pop. Übrigens: Alle Profite des Albums werden an das Guy’s and St Thomas’ Hospital Cancer Centre gehen. Das Krankenhaus, in dem Mario Athanasiou behandelt wurde.

Ich kann einen Spotify-Link auf „For Irini“ nicht einbetten, denn es steht dort noch nicht. Noch müsst ihr auf Pledgemusic gehen, um das Album zu bestellen. Die Vinyle sind noch nicht ausverkauft – also, ihr wisst, was ihr zu tun habt.

Abschließen will ich mit dem Refrain von „One In A Million“. Ich glaube, es geht in dem Lied um Captain selbst. Darum, wie sie ihren Karriereverlauf betrachten – und um Mario.

Forget styles, forget stars – we were one in a million
Forget scenes and magazines – we were one in a million
Forget fears and forget cool – we were one in a million
Forget time and forget rules – we were one in a million   

Forget style, forget stars, forget tears,
Forget fears, forget cool, forget time,
Forget days, forget years, I won’t forget you.
Forget me, forget sincere, you were one in a million*

‚* Ausgerechnet bei der letzten Zeile bin ich mir nicht sicher. Wer’s richtig weiss möge mich falls nötig korrigieren.

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