Review: Ratboy

Ratboy – „SCUM“

Die Mechanismen in der Musikindustrie laufen heute – eh klar – anders als früher. In den 90s war’s so: Hatte eine Plattenfirma das Next Big Thing gescoutet und unter Vertrag genommen, wurde die Band / der Musiker erst mal ein Jahr zum Songschreiben und Instrumente lernen weggesperrt. Die Band kam zum Label zurück mit 15, 20 Songs. Man pickte 3-4 Singles (die stärkste war meistens Nummer 3: Suedes „Animal Nitrate“, Oasis’ „Live Forever“, Placebos „Nancy Boy“), um mit ihnen Eindruck zu machen und einen Hype zu generieren. Bei Single 3 sollte die Begeisterung bei Presse und Kids am Kochen sein, sie war der Vorbote fürs Album, das kurz darauf folgte. Man konnte sich auf NME und Co verlassen, dass dieser Promo-Zyklus eingehalten wurde. War die Band zum Album-Release auf den Titelseiten und in aller Munde, ging die Platte garantiert in die Top 5. Und wenn die Singles einfach nicht griffen? Dann wurden Bands auch mal sang- und klanglos „gedroppt“, ihr Debütalbum verschwand ungehört im Archiv. Das Geld hatten Labels damals ja. Man konnte es sich leisten, auf mehrere Pferde zu setzen. Das eine, das durchkam, finanzierte den Rest.

Dieses Geld hat das Musikbiz heute nicht mehr. Kostspielige Fehlgriffe können sich Labels nicht mehr leisten. Schon lange ziehen sie ihre Kampagnen nicht mehr auf diese Weise auf. Es geht nicht mehr, immer größere Brocken in den Pool zu werfen, um Wellen zu machen. Singles und EPs sind keine Statements-of-intent mehr – eine Single zu veröffentlichen, das heißt heute, den Zeh in den Pool zu tauchen und mal abzuwarten, was passiert. Und dann noch einen. Ein Album? Oft erst nach sechs, sieben Stipsern des Zehs in den Pool wagt man den Sprung ins kalte Wasser. Und so kommt’s dann vor, dass eine Band oder ein Künstler gefühlt schon seit einer Ewigkeit herum werkelt, bevor ein Album am Horizont ist. Blossoms und WHITE hatten nicht weniger sechs bereits als Single bekannte Songs auf ihren Debütalben. The Vryll Society sind inzwischen bei sieben und vom Album ist nichts zu hören. Und Rat Boy? Hat acht Singles veröffentlicht seit 2015. Die genug Wirbel machten, dass er Anfang 2016 vm NME und der BBC zum „Sound of 2016“ erklärt wurde. Rat Boy hat auf der Insel eine Army von Fans, die seinen Style kopieren. Und trotzdem dauerte es bis zum August 2017, bis sein Label das Album rausrückte – und das Gefühl, das bei dieser VÖ vermittelt wird, ist nicht „Hoppla, jetzt kommt unser neuer Topstar!“, sondern „Naja, wir wollten das Ganze ja eigentlich auf dem Rücken eines echten Hits einreiten lassen, was aber immer noch nicht passiert ist. Doch wenn wir die Platte noch länger zurück halten, wird’s echt lächerlich.“

Schade, dass das so gelaufen ist, denn die Platte ist frech, smart und lässig.

Rat Boy, das ist Jordan Cardy, ein inzwischen 21jähriger Querkopf aus Chelmsford in Essex. Schon als hyperaktiver Teenager schwänzte er immer die Schule und machte statt dessen DIY-Indierock und -Rap. Jordan gestaltete auch seine Plattencover, drehte mit seinen Kumpels Videos, gründete inzwischen ein Label. Top-Punktzahl für Initiative erst mal.

Als die ersten Singles erschienen, wurde Jordan vor allem mit einem Namen verglichen: Jamie T. Seitdem haben sich die Dinge so ergeben: Erstens ist Jamie T selbst erwachsener und bitterer geworden. Damit hat er quasi den Platz auf dem Markt frei gemacht. Zweitens: je mehr Singles erschienen, desto mehr kristallisierten sch auch die Unterschiede heraus, die Rat Boy sehr wohl an den Tag legt: Jordan ist positiver. Klar, auch er schimpft. Seine Generation ist – speziell auf der Insel – in eine miese Situation rein geboren worden. Kaum Zukunftsaussichten für die Working Class, trotzdem regiert ein oberflächlicher Materialismus. Der Taschendieb, der Jordan in „Fake ID“ ausraubt, beschwert sich entsprechend: „Where’s your iphone6? I’m not stealing this shit!“ Aber die Zeile zeigt schon, Jordan bewahrt sich in der Zustandsbeschreibung seinen Humor. Auch schreibt er durchaus mal ein Liebeslied, wie „Laid Back“. Noch was: Jamie T ist erkennbar Londoner. Bei Rat Boy gehört das aus-der-Kleinstadt-Kommen unbedingt dazu, in seinen Geschichten, seiner Identität.

Wer Rat Boy bisher verfolgte, kennt die im letzten Absatz genannten Songs – sie waren schon Singles. Aber es gibt auch einen ganzen Stapel neue Stücke auf diesem Longplayer. Können sie mit den bisherigen kleinen Hits mithalten? Das können sie. Vom dubbigen „Turn Round M8“ über den Punkpop von „Knock Knock Knock“ zu den Arctic Monkeys-esken Nummern wie „Sportswear“ oder „SCUM“, auf denen voll zur Geltung kommt, dass Jordan inzwischen eine Band um sich geschart hat.

Worüber man sich auf dieser Platte streiten kann, das sind die „Skits“. Alle zwei, drei Songs wird das Album von kleinen Einlagen unterbrochen: ein fiktiver Radiomoderator macht seine Ansagen, eine Werbung für „Big Fucka Burgers“, eine Durchsage von Präsident Trump sorgen für Abwechslung. „Wie bei Grand Theft Auto“, so die Idee von Jordan.
Mein Problem mit diesen Spots: Ich find’ sie nicht besonders witzig. Und nimmt man’s beim ersten Mal noch mit und denkt sich: „Och stimmt schon, es lockert die Sache auf“, ist man beim sechsten Durchlauf des Albums nur noch genervt von den schlechten Witzen, die man schon auswendig kann, ohne es zu wollen.

Aber abgesehen davon: Insgesamt ist dies eine Platte, die britischen Witz hat, die strubbelig und rebellisch ist, die von einem aufgeweckten Kerl gemacht wurde, der einen originellen und relevanten Kommentar aufs Großbritannien 2017 gibt – und das aus einer wichtigen Perspektive, der der Working Class nämlich, die nicht mehr oft zu Wort kommt. Auch ist es eine Platte, die Tanzbarkeit, Indie-Gitarren und schnodderige Attitüde verbindet.

Rat Boy ist ganz zweifellos ein Typ, der was zu sagen hat und der das auf gewitzte Weise tut. Die Platte zeigt ihn von vielen verschiedenen Seiten (die Deluxe-Version hat 16 Songs!) und hat den einen oder anderen richtigen Hit an Bord. Okay, der Rollout des Ganzen hätte fürs Label optimaler laufen können, aber das, was man sich nach all den Singles von dem Album versprechen durfte, das hält die Platte.

Bleibt eine Frage: Warum ist der Typ dann nicht auf allen Titelseiten?

Ich habe drüber nachgedacht. Dazu: Übrigens, ich hatte neulich auch ein Interview mit Jordan – leider habe ich mich entschieden, es nicht auf den Blog zu stellen. Denn nicht jedes Interview läuft super und lohnt sich, zu transkribieren. Ich erwischte Jordan nach mehreren Versuchen, als er im Flughafen am Gate wartete. Die Verbindung war extrem mies, unser Gespräch besteht aus viel Funklöchern, häufigem „Wie bitte“ und „Sorry, kannst du das noch mal wiederholen?“

Naja, jedenfalls, aus dem Gespräch: Jordans große Vorbilder sind die Beastie Boys und die Gorillaz. Für die Aufnahmen an „SCUM“ konnte Rat Boy in der Tat sowohl in New York in den Studios der ersteren aufnehmen als auch in London bei Damon Albarn. Blurs Graham Coxon spielt Gitarre auf „Laid Back“.

Für mich superlässige Referenzen. Aber dann denke ich mir: Hmm, „Check Your Head“ erschien 1992. „Demon Days“ erschien 2005, auch schon 12 Jahre her. Ist Rat Boy mit diesen Vorbildern für seine Altersgenossen vielleicht null zeitgemäß? Könnte er damit  quasi genau so gut Jazzfreak sein? Vielleicht ist der freshe indie-Hiphop-DIY-Boy nur für Leute im Alter von Blur, Beck und den Beastie Boys fresh?

Hmm.

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