Review: Henrik Berggren

Henrik Berggren – „Wolf’s Heart“

Ich habe „13 Reasons Why“ noch nicht gesehen. Die Diskussion habe ich aber natürlich mitgekriegt. Es ist eine Gratwanderung, wenn man in der Popkultur mit Selbstmord und Depression umgehen will. Vieles, was gut gemeint war, ist sehr naiv und kann auch als Verherrlichung rüberkommen. Wir sind von diesem Thema fasziniert und das schon lange. Bereits Goethes „Leiden des jungen Werther“ sorgten für eine Selbstmordwelle.

Viele von uns haben diese Gedanken schon gehabt. Wir sind durch Täler der Depression gegangen oder stecken fest drin. Wir haben Leute im Freundeskreis, die „suchtgefährdet“ sind, wie man das dann nennt. Die einfach von allem mehr brauchen, als gesund ist, Alkohol, Zuneigung, Thrills. Konsterniert lernt man, dass helfen und oft auch nur verstehen zu können unsere Fähigkeiten übersteigt. Manchmal sind die Gefühle so übermächtig, dass sie jede Logik und Vernunft besiegen. Wer selbst in dieser Spirale gefangen ist, weiss, dass das nichts mit Romantik zu tun hat. Aber wenn Künstler diese emotionalen Unwetterkatastrophen zum Ausdruck bringen, sind wir berauscht von ihrer Ausdruckskraft. Wir müssen aufpassen, echte Krankheit und irren Schmerz nicht zu glorifizieren.

Henrik Berggren hat 13 Jahre lang keine neue Platte gemacht. Seine Rückkehr ist ne Sensation, ne absolute Sensation. In Schweden wurde die Berggren-Soloplatte schon zum sagenumwobenen Mythos. Henrik war der Frontmann von Broder Daniel. 

Ich kann nicht davon ausgehen, dass alle von euch Broder Daniel kennen. Es war Schwedens irrste Band der späten 90er. Zeitweise war die Gruppe der Talentmagnet Göteborgs: Gleich mehrere Bandmitglieder brachten es später außerhalb von „BD“ zu Ruhm: SWE-Superstar Håkan Hellström war Bassist und Drummer, The Plan-Sänger Theodor Jensen spielt hier Gitarre, auch Drummer „Poplars“ und Gitarrist Daniel Gilbert tauchten über die Jahre in zig weiteren Bands auf. Absolutes Epizentrum von Broder Daniel konnte aber immer nur einer sein: Sänger Henrik Berggren. Der Typ mit den Sternaufklebern im Gesicht (in den 90s machte das NIEMAND) und dem dicken Kajal, der die Töne nicht traf, aber umso begeisterter krähte. Seine Texte fast schon provokant primitiv, ein Urschrei: „We are Underground, we are Underground, we are Underground!“ Man musste nur die Videos sehen, um zu ahnen: Der Kerl war möglicherweise manisch-depressiv. Er sang von der Tristigkeit des Lebens („Work“), er sang davon, daraus auszubrechen („Luke Skywalker“) und er sang von der unendlichen Traurigkeit, die ihn auffraß („Shoreline“).

So wurden BD zu einer kultig verehrten Undergroundband. ihre ersten drei Alben („Saturday Night Engine“ (1995), „Broder Daniel“ (1996) und „Broder Daniel Forever“ (1998)“ erreichten keine hohen Chartplatzierungen, aber eine besessene Fanbase. Dann setzte Regisseur Lukas Moodysson drei Songs der Band in seinem Film „Fucking Åmal“ (dt: „Raus aus Åmal“) ein, der zum SWE-Blockbuster wurde und in diesem Zuge auch Broder Daniel eine neue Erfolgsebene erschloss. Als 2003 ihr viertes und letztes Album „Cruel Town“ erschien, stürmte es auf Platz 1 der Landescharts und Broder Daniel spielten eine triumphale Tournee durch Schwedens größte Hallen. Vorausgegangen war bereits eine Pause von fünf Jahren, in denen Henrik Berggren mit seinen Depressionen und seinem Suchtverhalten kämpfte. Er war auch bald danach wieder in Behandlung.

Wir haben ein Broder Daniel-Mitglied noch nicht erwähnt. Anders Göthberg, Henriks treuen Sidekick an der Gitarre. Henrik bezeichnete seinen engen Freund später als „seinen Kontaktmann zur Außenwelt“. Im März 2008 sprang Anders Göthberg von Stockholms berüchtigter Selbstmörderbrücke Västerbron.

Das war natürlich das Ende von Broder Daniel.

Anders zu Ehren gaben die früheren Mitglieder von BD im August 2008 ein Abschiedskonzert.

Danach hörte man nichts mehr von Henrik Berggren.

Wie man heute liest, zog er sich völlig zurück. Ging wieder zur Uni und studierte Sprachen (angeblich spricht er jetzt fließend altgriechisch), aber ansonsten nicht mehr aus dem Haus. Zu allem Überfluss, das erfährt man in diesen Tagen, erkrankte er am chronischen Erschöpfungssyndrom. Alles sprach dagegen, dass wir noch mal was von Henrik Berggren hören. Aber hier sind sie, acht neue Songs, aufgenommen mit den ehemaligen BD-Kollegen Theodor Jensen und „Poplars“ Malmros.

Ich will nicht in die „13 Reasons Why“-Falle tappen und romantisieren, dass hier so viel Tod, Einsamkeit und Schwermut vorkommt. Wir suhlen uns als Hörer gerne mal in der Traurigkeit anderer Leute. Andererseits: Schon die Griechen schrieben Tragödien, weil der Zuschauer im Trauerspiel Katharsis erleben sollte. Und hey, diese unfassbar traurigen Popsongs zu hören, das ist ultimativ kathartisch.

Run Andy Run:

„There was a dream I had last night,
we were standing in the golden light
by the schoolyard where we used to meet.
You were so young, I was my age –
and after what I knew, i had to say to you:
Run Andy run, get out while you’re young,
don’t look back, time will go so fast…“

Es ist ja wohl klar, wer dieser Andy ist, an den Henrik Berggren seinen Song richtet – Anders Göthberg. Jetzt sagt mir nicht, dass euch dieser Text nicht fertig macht. Katharsis. Aber voll.

Aber von Anfang an. „Hold On To Your Dreams“ – eine Zeile, die man oft gehört hat. Eine hohle Phrase eigentlich. Bei Henrik Berggren aber weiss man, dass er’s so meint. Bei ihm hat’s Power: „I tried so hard to stay afloat, like I’m fighting to breathe. Dark Clouds open up on me. Hold on to your dreams…“ Es klingt nach „House Of The Rising Sun“ mit rauen Indiegitarren. Hätte gut auf „Cruel Town“ gepasst.

Es folgt die Popnummer „Wild Child“. Ein Ohrwurm, der aber – natürlich – seine 100 Punkte durch den berührenden Text kriegt, den man auch vollständig zitieren könnte. „I didn’t care if I choked or died, at least I knew I had felt alive – I’m a wild child, I fell in love with the wildfire (…)“ besingt Henrik seine Rastlosigkeit als Jugendlicher, um in Strophe drei in der Gegenwart anzukommen: „…Sometimes I feel I’m just a big mistake and now I’m worse off than what I tried to escape. But when the surge of action comes I can’t help myself, I love nothing else  I’m a wild child.“ Puh.

„To My Brother, Johnny“ und der Titelsong „Wolf’s Heart“ führen das bisher gehörte fort. Es war immer schon ein Element bei Broder Daniel, dass das Songwriting klassisch und schlicht blieb. So auch hier: Hymnische Sixties-Balladen, wenige Akkorde, aber Strophen, Bridges und Refrains, die im Ohr bleiben.

Umso überraschender daher „Parties“, noch so ein absolutes Highlight dieser Platte. Ein Walzer. Man stelle sich „Golden Brown“ von den Stranglers auf dem Jahrmarkt vor. „Here’s to the parties, they’ll be the end of me – my time is waning, but I’m going out blazing“ kräht Henrik mit seiner so charakterischen Mischung aus Stolz, Trotz und Verzweiflung und macht aus seiner Sucht nach der Sucht ganz große Kunst.

Dann das oben bereits genannte „Run Andy Run“ sowie  „Thirst For Life“ hauen noch mal treffsicher in die Phil Spector-„Cruel Town“-Kerbe. Bleibt noch „Come, Mommy, Take My Hand“, die dramatische abschließende Ballade.

„Wolf’s Heart“ wird Henriks letzte Platte sein, so hat er es verlautbart, auch wenn er zur Zeit so aktiv wie lange nicht Songs schreibt. Aber mit seinem Erschöpfungssyndrom sei an eine Karriere nicht zu denken. Zu der Platte wird’s zwar ein paar Konzerte geben, aber die Shows sind immer mehrere Tage auseinander. Nun, ich hoffe, dass dies noch nicht das Ende ist – und wenn wir wieder 14 Jahre warten müssen, egal. Andernfalls aber hätte Henrik Berggren unter 22 kathartische, extrem persönliche Jahre schwedischer Rockgeschichte einen beeindruckenden Schlusspunkt gesetzt.

Broder Daniel über die Jahre: 1995

1996:

1998:

1998 (mit Szenen aus „Raus aus Åmal“)

2004 – viele kennen „Shoreline“ in der Version von Anna Ternheim – das Original ist von BD

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