Review: Schrottgrenze

schrottgrenze_glitzer_auf_beton_rgbSchrottgrenze – „Glitzer auf Beton“

Okay, ich bin kein richtiger Kenner dieser Band, denn ich war spät dran bei Schrottgrenze. „Chateau“ (2006) war die Platte, die es mir echt angetan hatte. Davor hatte ich die Band einfach nicht wahrgenommen, dabei war das schon ihr sechstes Album. Zusammen spielten sie schon seit den frühen 90ern, angefangen hatten sie als junge Punks in Peine. Mitte der Nuller (ich glaube, man nennt die Dekade 2000-2009 jetzt offiziell Nuller, oder?) lebten sie in Hamburg und machten – Achtung, Klischee-Ausdruck! – Hamburger-Schule-Sound. Was ja auch nie so mein Ding war. Viele dieser Bands (natürlich nicht alle, aber ich will da jetzt nicht ins Detail gehen), egal ob erste, zweite oder dritte Generation, fand ich gestellt, neunmalklug, zu imagebewusst, unehrlich.  (Die schlimmste Maskerade von Bands ist für mich, wenn sie verkrampft auch  „authentisch“ bzw. „ach-so-normal“ tun – da kann ich den Hass kriegen.)

Vorwürfe, die man Schrottgrenze nicht machen konnte. Auch, weil ihre Texte vager waren als die vieler Kollegen, sie arbeiteten mit Andeutungen und Bildern. Aber ich glaube ja, dass das Unterbewusstsein manchmal den Job übernimmt, Textbruchstücke, Akkorde und Klänge zu dekodieren und bildete mir ein, die Essenz dieser Songs käme bei mir an. Mein Unterbewusstsein unterstellte Schrottgrenze eine einsichtige, ehrliche Traurigkeit, die dabei nie resignativ war, sondern sich den Kern einer Hoffnung bewahrte. Ich mochte das Album jedenfalls sehr und „Am gleichen Meer“ war einer der wenigen deutschen Songs, die ich im Atomic britwochs auflegte. 

Auf „Chateau“ folgte noch „Schrottism“ (2007), das ebenfalls starke Momente hatte, aber das war’s erst mal.

Fast Forward 2017. Schrottgrenze haben sich wiedervereinigt. Was natürlich bedeutet, dass sie sich davor erst mal getrennt hatten. Nicht, dass ich es mitbekommen hätte. Ich bin leicht abzulenken.

Anyway. Schrottgrenze, auf ein Neues. Und zwar wie! Sänger Alex Tsitsigias ist ein regelrecht neuer Mensch. Wirklich. Er/sie lebt jetzt auch als Saskia Laveaux. Wir zitieren mal eben von der Label-Website: „Erst mit Ende 20 war ich in der Lage, mich zu outen“, steht da, „dabei wusste ich schon mit 15, was Sache ist. Es hat lange gedauert, bis ich die Queerszene entdeckt und mich mein erstes Coming Out getraut habe.“

schrottgrenze2017Das bedeutet: Die neuen Schrottgrenze haben ein neues Thema – und es ist ein Thema, das auch eine neue Herangehensweise einfordert. Keine Andeutungen mehr, sondern Klartext. Noch mal ein Zitat aus der Pressebio: „Das Album richtet sich an Leute, die sich unsichtbar fühlen und auf der Platte dann wiederfinden“, sagt Alex. „Es richtet sich an alle, die die Queer Community unterstützen. Und es richtet sich auch an Leute, die Vorurteile und keinen Bock aufs Thema haben.“

Was das bedeutet, macht die Single „Sterne“ unmissverständlich klar. Hier ist nichts undeutlich. Der Text ist auf keine unterschiedlichen Weisen zu interpretieren, es ist eine Ode ans Anderssein, ein stolzes Statement der Queerness. Auch die Gitarre kreiselt hier keinen Umweg – es ist ein zackiger, praller Gitarrenpopsong in Dur. So satt poppig ist diese Nummer, dass man sie sich trotz ihrer zickzackigen Indierock-Gitarren fast bei den Privatsendern im Programm vorstellen kann, zwischen den Kackaffen, die „Ein Hoch auf uns!“ und von „Chören“ trällern. Nur, dass der Text so manchen Hörer aufschrecken würde, auch 2017 noch. „Weil Geschlechter konstruiert sind und wir sie nicht leben müssen  / und weil Leute irritiert sind, wenn sich Männer küssen…“. Kurz und gut, „Sterne“ ist ein „Wow!“-Moment.

Dass die anderen elf Songs auf „Glitzer auf Beton“ auch solche Knüller sein könnten. wäre aber natürlich etwas zu viel erwartet. Aber es gibt genug starke Momente.

Los geht’s mit dem Titelsong , ähnlich schmissig wie die erste Single. Er vertont ein Gewicht, das von den Schultern fällt, ein großes glückliches Mit-sich-ins-Reine-Kommen und verlangt daher natürlich ebenfalls nach happy Indiepop. Ein Modus, den Schrottgrenze lange beibehalten.

Ich muss jedoch gestehen, dass meine Indie-Präferenzen mich daher im Verlaufe des Albums einholen. So sehr ich mich für Alex freue, dass er heute Erleichterung und Glückseligkeit thematisieren kann und die Rastlosigkeit und die Schwermut von „Chateau“ ihn nicht mehr regieren, bin ich selbst halt doch darin gefangen, ein unnötig melancholischer Heini zu sein. Nach dem fünften Upbeat-Klopfer könnte ich einfach mal wieder ein gebremsteres Tempo vertragen, aber auch „Halbfrei“ flitzt wieder mit einem Hurra durch seine 3:01 Minuten, dass es anfängt, mich sanft zu nerven. Mit „Schlaf die Schmerzen weg“ – der Titel verrät’s schon – werden die Farben grauer. Hmm. Ich muss feststellen, auch dies ist nicht mein Lieblingslied der Platte. Aber: Als das folgende „Dulsberg“ dann wieder Gas gibt, stehe ich drauf. Gut möglich, dass einfach nur der Kontrast schuld ist und dass der Platte etwas mehr Variation gut täte.

Als nächstes was für uns Indie-Totalnerds. Ich habe eine Schwäche für den Song „Since Yesterday“, wenn auch nicht unbedingt im Original von Strawberry Switchblade. Meine erste Begegnung mit dem Lied war die Version der Pop-Shoegazer Revolver. Frage: Habt ihr das schon mal erlebt? Ihr hört einen Song und euch fällt auf: „Hey, die Melodie erinnert mich voll an…“. Dann stellt ihr fest: „Hoppla, der Text ja auch!“ Schließlich nehmt ihr die CD zur Hand und seht: „Verdammt, die Nummer heisst ‚Seit gestern‘, es ist ergo ne deutsche Übersetzung von ‚Since Yesterday‘ und ich hab’s voll erkannt!“ Wusstet ihr, dass Euer Gehirn in dem Moment krass Belohnungshormone ausschüttet? Als hättet ihr was Tolles geleistet? Schon interessant, dass unser Gehirn auf sowas gepolt ist. Das hatte ich neulich erst, da hörte ich ein wundervolles Instrumental von Chris Thile und Brad Mehldau und wusste: „Verdammt, das kenn ich doch?“ Ich hätte in die Luft hätte springen können, als ich es als Elliott Smiths „Independence Day“ identifizierte. Sorry, total abgeschweift. Zum Glück ist dies hier mein kleiner Popelblog, den kaum ein Mensch liest, da darf ich sowas. Puh!

Ich darf hier alles, sogar von Track 9 direkt zum Fazit springen! Und meins lautet: Gute Platte. Ein bisschen wenig Variation vielleicht, das habe ich oben schon gesagt, viele Songs im ähnlich flotten Tempo und ähnlicher Happy-Ausrichtung. Aber was wirklich bemerkenswert ist, ist dass sich Schrottgrenze hier so ganz anders präsentieren, als wir sie in Erinnerung haben. Über zwei Jahrzehnte nach ihrer Gründung feiern sie ihre Reunion also nicht aus Nostalgie oder weil sie nichts besseres zu tun haben, sondern sie gehen mit fester, neuer Determination und echter Message an den Neustart. Der/die neue gender-unspezifische Alex/Saskia ist dabei eine vielschichtige Frontfigur, die nicht nur für den deutschen Indie, sondern die hiesige Poplandschaft schlechthin eine echte Bereicherung darstellt, die eine wichtige Rolle einnehmen kann und die hoffentlich bald über die Grenzen unseres Genres hinaus wahrgenommen wird. Die Songs, die eine solche Breitenwirksamkeit gewährleisten können, weil sie sich mit großer Popfreundlichkeit über den Indie-Tellerrand hinaus wagen, haben Schrottgrenze auf dieser Platte schon mal abgeliefert.

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Fotocredit Schrottgrenze: Chantal Weber

Schrottgrenze 2006:

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