Video Analyse: Awolnation

Laut meinem Zähler rechts ist dies der hundertste Beitrag, den ich seit meinem Blog-Neubeginn unter der Kategorie „New(ish) Clips“ poste. Ich will das zum Anlass nehmen, von jetzt an (wenn ich die Möglichkeit/Zeit habe, oft kommt man ja gar nicht erst dazu) Videos auch mal etwas vertiefter zu besprechen bzw zu bewerten. So nach dem Motto: Was finde ich gut, was nicht? Was finde ich witzig, oder auffällig? Wie deute ich den Song/das Visuelle? Denn wenn es hier nur darum ginge, Videos weiter zu leiten, warum sollte man meinen Blog dann lesen?

Es gibt ein zweites Video vom Awolnation-Album „Run“, und als Single gepickt wurde „I Am“. Nicht unbedingt der Titel, der meine erste Wahl gewesen wäre. Mein Lieblingslied von der Platte ist der Titelsong, der aber wohl im Radio keine Chancen hat. Am Single-tauglichsten ist meiner Meinung nach „Woman Woman.“ Aber gut.

So. Betrachten wir den Clip doch mal. Die ersten 40 Sekunden sind musikalisch sehr reduziert, was der Regisseur (sein/ihr Name wird nicht genannt) auch visuell wiedergibt. Auffällig die Textzeile „I’ll be swimming in a face of flames for these friends of mine I overpaid“ – ganz offenbar eine Abrechnung mit Aaron Brunos alten Dealern.  awolnation i am 1

45 Sek: Der Refrain kommt rein, die Synths, die Beats, und damit gehen auch die Scheinwerfer an. Aaron ist nicht allein, befindet sich in einer ganzen Masse von Tänzern und Tänzerinnen. Der Text des Refrains: „All of these things made me who I am“ – es geht also immer noch um frühere Fehler, aber vor allem darum, diese zu akzeptieren. Die Anwesenheit der Tänzer unterstreicht: Aarons Geschichte ist eine universelle Geschichte. Die Menschenmenge sitzt da quasi solidarisch mit ihm und lebt seine Leiden mit durch. Unsauber: Die Lippen sind nicht synchron zur Musik geschnitten.

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Strophe 2: „Veins are glistening, so thanks a lot for listening.“ Alles klar. Wer noch Zweifel hatte, dass Aaron seine Drogenhistorie aufarbeitet (und dass es Heroin war), sollte es spätestens jetzt verstanden haben. The dancers are feeling Aaron’s pain.

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Refrain 2 bringt mich zu zwei Zeilen, die ich beim ersten Durchlauf noch nicht ansprach: “Only looking up when my head’s down!“ Das beschreibt wohl Aarons depressive Persönlichkeit. So nach dem Motto: „Erst, wenn ich ganz ganz unten bin, kann ich mich zu etwas aufraffen.“ Oder es beschreibt eine Verformung der Wirbelsäule. Höhö.
Zweite wichtige Zeile, die Bridge: “I guess I wanted, I just want you to know“ – Könnte bei anderen Bands einfach eine Füllzeile sein, klingt hier aber bestimmter. Da gibt’s offenbar eine Person, der Aaron mit diesem Song seine Persönlichkeit erklären will. Die Beziehung, I guess? Oder: Das Publikum, wir alle? 

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2:30 Die Middle-Eight. „Yeah! Yeah! Someone left the lights on!“ Hat was zu bedeuten? Hmm. Meine Deutung: Es war noch nicht zu spät, die Lichter sind noch nicht ausgegangen, Aaron hat die Kurve gekriegt.

3:20 Aaron wird regelrecht Jesus-esk angestrahlt. Er singt: „Hypnotized from the day you were born.“ Aaa-ha! Ist Aaron Bruno Papa? Müsste man mal rauskriegen. Dann wäre dies ein Lied für seinen Nachwuchs, dem er hiermit quasi offenlegt: „Dein Vater ist kein perfekter Typ, aber seine Fehler gehören zu ihm“?

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3:47: Waldhörner?! Durchaus pathetisch, aber Aaron Bruno hat keine Angst vor Pathos. Er hat keine Angst vor nichts, deswegen mag ich Awolnation ja.

Okay. Fazit. Ich finde, die Umsetzung dieses Songs – wenn ich ihn denn richtig verstanden habe – ist dem Regisseur gut gelungen. Klar, das Prinzip „leise = dunkel, laut = grell hell“, das ist so naheliegend, dass es keinen Originalitätspreis kriegen kann. Aber andererseits, umgekehrt wär’s ja Quatsch. So ist es schlicht, aber effektiv. Das gilt auch für die Tänzer.

Um den Text zu verstehen, hilft es natürlich, Aarons Geschichte zu kennen: Kurzfassung: Der Musiker, der mit seiner früheren Band trotz Majorlabel-Power den Durchbruch nicht schaffte, nach Verlust des Vertrages depressiv und verdrogt am Existenzminimum vegetierte, sich aber so aber „befreit“ erstmals traute, Musik nur nach seinem eigenen Geschmack, nicht fürs Radio zu machen – und dem unerwartet doch ausgerechnet mit seiner verzweifeltsten Musik noch der Durchbruch gelang – sogar ein solcher Welthit („Sail“), der ihm heute seine Existenz sichert. Wer inzwischen seine Tantiemen in Immobilien investiert, der kann auf seine Drogenkarriere zurückblicken mit einem wachsamen Auge, aber auch mit dem Wissen: „All these things made me who I am“

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